Ellingen
Das Flurkreuz von Ellingen
Willi Groß (Prenzlau), der als Mundartautor in dem Buch von Dr. E. Krienke "Uns Uckermark" mit Leseproben seines Schaffens gewürdigt wird, hat ausführlich die Sage vom Sühnekreuz zu Ellingen überliefert. Die eigentliche Sage wurde poetisch ausgeformt:
Der heiße Sommertag tauchte in die Kühle des Abends unter. Über die alten Weiden an der Landstraße von Woldegk nach Prenzlau hauchte der flammende Himmel goldenes Licht und malte allerlei Bilder um Stämme und Steine. Zwei wandernde Steinmetzen kamen die Straße daher. Stiefel und Kleider, sogar Felleisen und Hut waren dicht bestäubt. Bei jedem Schritte wirbelte ein grauer Schwalm neben ihnen auf, begleitete sie eine Weile und zerfloß hinter ihnen in Nichts. Das Gesicht des einen war hochgerötet. Der Schweiß hatte sichtbare Spuren über die runden Wangen gezogen. Der andere war von schmaler Gestalt und sah blaß aus. Um seine Augen hatte die Anstrengung blaue Schatten gelegt. Sein Mund war leicht geöffnet und lechzte nach einem labenden Tropfen. Sein Auge aber trachtete in die Weite voraus, wo die Türme und Dächer Prenzlaus im Abendlichte funkelten. Dort lag ihre Heimatstadt, das Ziel ihrer Wanderung nach langer Abwesenheit. "Kuno", sprach der Blasse, und seine Schritte stockten, "wir finden die Tore geschlossen, wenn wir dort sind, laß uns in Ellingen einkehren, ich kann nicht mehr weiter." Und dabei stand er still, zog ein rotbuntes Schnupftuch aus der Tasche und trocknete die Stirn. "Weiter, weiter, Hennerke", forderte Kuno ihn auf, "Wer wird sich kurz vor dem Ziele noch besinnen!" Und rüstig schritt er zu, ohne sich umzusehen. Hennerke aber stützte die Hand an einen Weidenstamm, ließ den Kopf hängen, fiel dann mit einem leisen Seufzer in das dürre Gras am Wege und blieb hingestreckt liegen.
Kuno ging endlich zurück und redete auf ihn ein, die halbe Meile noch auszuhalten. Hennerke aber breitete die Arme aus, ließ sein Haupt darauf sinken und schloß die Augen. Der Marsch von Lübeck her hatte ihn doch angepackt. Und kurz vor dem Ziele versagten seine Kräfte. Ein jäher Hustenanfall schüttelte ihn hin und her und ließ ihn erschöpft liegen. Kuno bückte sich, nahm ihm fürsorglich das Felleisen vom Rücken, schob es unter sein Haupt und öffnete ihm den Kragen. "Dann wollen wir wenigstens versuchen, das Dorf zu erreichen" , meinte er sanft. Und als er Blutstropfen auf den Lippen seines Gefährten bemerkte, wischte er sie vorsichtig ab. Während sie am Wege saßen, waren einige vollbeladene Erntewagen an ihnen vorbeigefahren und seitwärts nach Ellingen abgebogen. Langsam schleppten die Pferde die Last hinter sich durch den tiefen, mahlenden Sand. Kaum waren in dem dichten Staube ihre Mäuler zu erkennen. Ihrem müden Schlenkern war anzumerken, daß sie unter Hitze und schwerer Arbeit tagelang ihren Strang gezogen hatten.
Das Volk der Schnitter aber saß in fröhlicher Stimmung auf dem letzten Wagen um eine aufgestellte Strohpuppe und sang ein Erntelied, denn die Ernte war beendet. Von den erhobenen Harken der Binderinnen flatterten bunte Bänder und verkündeten die letzte Fuhre. Als der Wagen an den beiden Wegmüden vorbeifuhr, flog ein kleiner Ährenkranz hernieder. Kuno griff danach und schwang ihn freudig empor, während der Gesang auf dem Wagen plötzlich verstummte. Ein Mädchen winkte ihm von oben lachend zu. Dann trottete auch dieses Gefährt vorbei, und es wurde ganz still auf der Straße. Ein kurzer Lerchenschlag wachte noch einmal aus den Stoppeln auf und endete mit einem jubelnden Triller. Darauf reckten sich die Schatten der Weiden länger und länger, bis sie sich nur noch wenig von der einfallenden Dämmerung abhoben und in ihr völlig zerflossen. Hennerke hatte sein Haupt schwer in die hohle Hand gestützt. Seine Brust hob sich stoßweise, seine Augen aber hingen verlangend an dem Ährenkranze, den Kuno noch hin und her drehte. Er seufzte schwer auf, richtete sich dann empor und stellte sich mühsam auf die schwankenden Füße. "Mich friert" , stieß er mit tonloser Stimme hervor, "komm, laß uns eine Herberge suchen. Vielleicht meine letzte."
"Hennerke, was redest du" , lachte Kuno und war ihn behilflich. "Der kleine Anfall wird bald vorübergehen, wenn du erst einen Abendtrunk genommen. Es war heute sehr heiß. Morgen sind wir daheim, und dann wird dich Mutter tüchtig pflegen." Langsam bogen auch sie nach dem Dorfe ab. Es war Abend geworden. Nur die Türme von St. Marien trugen noch ein Fünkchen Sonnenlicht auf ihren Dächern. Hennerke winkt lächelnd noch einmal hinüber, ehe sie im Dorfkruge nach Handwerksbrauch um ein Nachtlagen vorsprachen. Dort aber herrschte lustiges Leben. Unter der breitästigen Rüster auf der Dorfaue schritten schon junge Paare nach dem Klange der Schalmeien zum Tanz. Immer mehr Mädel und Burschen fanden sich ein, den Tanz um die letzte Garbe zu führen, die an einem tiefen Aste des Baumes als Puppe aufgehängt war. Kuno und Hennerke waren nach gründlicher Säuberung und kurzem Imbiß auf dem Heuboden zur Ruhe gegangen. Aber keinem wollte der erquickende Schlaf kommen. Während Hennerke ein trockener Husten plagte und ihm der Atem röchelnd durch die Brust fuhr, lag Kuno der Klang der Schalmeien im Ohr, und es kribbelte ihm merklich in den Füßen. Er versuchte zu schlafen. Aber immer wieder jauchzten die Töne bekannter Tanzweisen durch seine Sinne, bis er endlich flüsterte: "Junge, Hennerke, ich halt's nicht mehr aus. Willst du mit zum Tanz?" Doch der mochte nicht, redete ihm vielmehr zu, allein zu gehen.
Da erhob sich Kuno von seinem Lager, entnahm seinem Ranzen eine saubere Bluse, ordnete Haar und Anzug, nahm den Ährenkranz, der neben ihm gelegen hatte, stieg die Leiter hinab und mischte sich unter das junge Volk. Der Platz war durch Kienfackeln erleuchtet. Flackerndes Licht goß sich über die tanzenden Paare und warf ihre Schatten in bunter Bewegung durcheinander. Bestürzt und erschrocken zugleich starrte Kuno in den Trubel. In seinem Hirn wirbelte es noch bunter als auf dem Platze. In seiner Brust fühlte er einen Druck, daß er die Arme heben mußte. Als er so dastand und den Ährenkranz einen Augenblick hoch über seinem Haupte hielt, löste sich aus den tanzenden Paaren eine Tänzerin, ließ ihren Burschen stehen und schritt gesenkten Hauptes auf Kuno zu. Vor ihm knickste sie dreimal, schlug die Augen auf und lächelte ihn an. Er aber setzte ihr den Kranz auf ihre dicken, blonden Zöpfe, die sie wie eine Krone um ihr Haupt geschlungen hatte, legte seinen Arm um ihre Hüften und schritt mit ihr zum Tanz.
Alle machten Platz und stellten sich rings im Kreise auf. Das Mädchen hielt Kuno bei der Hand und stand mit ihm unter der Puppe. "Du mußt sie anzünden", flüsterte es ihm zu. Er begriff nicht. Ihm war, als ginge er an der weichen Hand des Mädchens durch ein Land, in dem die Blumen rot wie Fackeln leuchteten und der Nachtwind wie Schalmeienton durch die Wipfel strich. Er hörte nicht das breite Lachen der Burschen und das heimliche Kichern der Mädchen. Er fühlte nur seine Hand ab und zu gedrückt und den Klang lieber Worte im Ohr. Ihm war so wohl, als wäre er daheim. Da sprang plötzlich ein großer, schmaler Bursche in städtischer Kleidung, derselbe, den das Mädchen vorhin losgelassen, aus dem Kreis der verstummenden Zuschauer hervor, ergriff eine Fackel und entzündete die Puppe, das sie hell aufloderte und wie Pulver verbrannte. Die Schalmeien setzten mit schnellen Takten ein, die Paare faßten sich an und bildeten einen dichten Ring um den herabfallenden glimmenden Rest. "Wir müssen hinüberspringen" , flüsterte das Mädchen. Doch Kuno stand wie geblendet und fühlte sich von dem Burschen beiseite gedrängt. Schon hatte der die Widerstrebende bei der Hand, als eine helle Empörung unter den Zuschauern ausbrach. Laute Rufe: "Der Steinmetz soll springen, er hat den Kranz gehabt, weg mit dem Schneider" ertönten.
Da wachte Kuno auf, er packte den Burschen an Arm und Wams und warf ihn unter Hohngelächter aus dem Kreise hinaus. Dann riß er das Mädchen, das ihm entgegenlachte, an sich und führte es mit hellem Jauchzer zum Sprunge. Die Schalmeien schmetterten, die Paare klatschten im Takt dazu und sprangen den beiden fröhlich nach. Im Tanze wirbelten sie weiter. Eine Mühle und eine Dreitur wurden vom Kiekbusch und Klapptanz abgelöst, bis man sich nach dem "Gode Nacht" bei verlöschenden Fackeln trennte. Die Schalmeien schwiegen, und still gingen die Paare heim. Sie hatten einem alten Brauche genügt und die letzte Garbe verbrannt. Kuno aber nahm sein Mädel bei der Hand, und sie wanderten langsamen Schrittes zum Dorfe hinaus. Die Blonde hatte die letzte Garbe auf dem Felde gebunden, hatte ihren Ährenkranz einem Burschen zuwerfen und ihn für sich gewinnen dürfen. Und nun hatten sich beide gefunden. Der Mond stieg hinter ihnen glührot aus den Uckerwiesen auf und warf ihre dicht aneinander geschmiegten Schatten lang voraus.
Derweil lag Hennerke immer noch von Schmerzen in der Brust gequält auf seinem einfachen Lager. Er hielt die Augen weit offen, und ihm war, als sähe er Kuno an der Seite eines frohen Mädchens durch die Nacht schreiten. Eine furchtbare Unruhe warf ihn hin und her. Er bemerkte einen menschlichen Schatten hinter ihnen von Baum zu Baum gleiten, sah funkelnde Augen und einen blinkenden Dolch. Ein schriller Schrei traf da sein Ohr und riß ihn hoch. Er tastete zu dem Beilager hinüber und fand es leer. "Kuno, lieber Kuno" , seufzte er und sank errmattet zurück. Schweiß trat ihm vor die Stirn, und vor Aufregung zitterte er an Händen und Füßen. Zwischen Traum und Wachen brachte er die Zeit bis zum Morgen zu. Als Kuno immer noch nicht zurück war, erhob er sich mühsam und hielt im Hofe und vor dem Tore Ausschau. Dann trieb es ihn zum Dorf hinaus. Wo der Weg in die Straße einbog, stockte sein Fuß. Dort saß ein Mädchen über Kuno gebückt und hielt sein Haupt im Schoße. Unaufhörlich streichelte es sein Haar und seine Stirn. Seine Wangen aber waren in dem Morgenlichte weiß wie Schnee, die Augen hielt er geschlossen, und über seine geöffneten Lippen tropfte hellrotes Blut. Hennerke ahnte erschrocken, daß sein Gesicht in der Nacht Wahrheit gewesen und daß Kunos Leben in Gefahr sei. Er stürzte in die Knie, legte sein Ohr auf des Freundes Brust und vernahm nur noch einen langsamen, schwachen Herzschlag. Aus dem Auge des Mädchens sprach die furchtbare Pein jäh zerrissener Hoffnung, die kein Wort, keine Gebärde Hennerkes zu ändern vermochte. Als er am Boden eine große Blutlache sah, wußte er um das Geschehene, strich dem Mädchen dankbar über die Hand und eilte, so schnell es ihm möglich war, ins Dorf zurück, um Hilfe zu holen.
Einige Männer fanden sich zusammen, um den Steinmetzen auf einem kleinen strohbeschütteten Wagen zu holen, brachten aber unter Begleitung des unaufhörlich schluchzenden Mädchens nur seine Leiche zurück. Am Nachmittage wandte sich Hennerke heimwärts. Und weil er eine doppelte Last mit sich schleppte, ging er nur langsam. Es quälte ihn der Vorwurf, in den letzten Tagen nicht schneller gewandert zu sein, dann wären sie gestern oder gar schon früher daheim gewesen, und Kunos Eltern hätten ihn gesund und frisch begrüßen können. Es bedrückte ihn auch unendlich, daß er ihm noch zugeredet hatte, auf den Dorfplatz zum Tanz zu gehen. Vielleicht wäre das Unglück auch dann vermieden. Als er über den Quillow schritt, fesselte das schnellfließende, blinkende Wasser seinen Blick. Er lehnte sich an das steinerne Brückengeländer und sah lange hinein. Die Sonnenstrahlen tanzten in flimmerndem Spiele über den Bach, und es funkelte und leuchtete darüber wie aus hundert kleinen Spiegeln. Plötzlich kroch eine Wolke über die Sonne, vernichtete den Glanz und ließ zerrissene Schatten darin untertauchen. Hennerke glaubte Kunos blasses Gesicht darin zu erkennen. Doch spülten die wechselvollen Wasser dies Bild bald wieder hinweg. Aber vor seiner Seele stand es und wollte nicht weichen. Immer höher türmte sich sein Schuldbewußtsein auf, immer stärker hämmerte sein Herz unter dem Druck des Erlebten. Hilfeflehend wanderten seine Augen über die Umgebung und gewahrten eine starke Steinplatte aus graurotem Granit. Erlöst atmete er auf, denn im gleichen Augenblick bewegte ihn ein sühnender Gedanke.
Er ging auf den Stein zu, zog Hammer und Meißel aus dem Ranzen und begann, ihn zu prüfen. Und weil er kernig und brauchbar war, stand sein Entschluß fest, daraus ein einfaches Kreuz für seinen Freund zu formen. Diese Absicht gab ihm Kraft, das letzte Wegstück forsche zu durchschreiten. Als er vom Kuhtore aus in die Strohstraße eintrat, sah ihm niemand mehr die Schwere der Wanderung an. Am Ende der Strohstraße bog er rechts in die Baustraße ab, um die Bude seines Vaters, eines ehrsamen Schneiders, aufzusuchen. Einsilbig schrillte die Glocke über der geöffneten Haustür. Kühle Luft schlug ihm aus dem schmalen, langen Flur entgegen. Ihm wurde schwindlig und er mußte sich am Treppengeländer halten, als seine Mutter ihm mit blassem, müden Gesicht entgegentrat. Es zuckte kein Strahl der Freude um ihren schmalen Mund, und die Augen schienen rot vom Weinen. Welk und matt reichte sie ihm nur die Hand. Auch der Vater blickte verstört drein und fand kein liebes Wort des Willkommens. Kalt und freudlos wie der Empfang schien ihm das ganze Haus.
Wie anders hatte er sich doch die Heimkehr ausgemalt. Seines Bruders Platz auf dem Arbeitstisch war leer. Nun erfuhr er auch, daß derselbe heute früh in hastiger Eile auf die Wanderschaft gezogen sei, ohne sich ordnungsgemäß von seinem Gewerk und von seinem Vater, der zugleich sein Meister war, abzumelden. Er sei mehr geflohen als gegangen. Nach drei Tagen stand Hennerke am Grabe Kunos, der in dem Friedgarten am Stettinschen Tore eingesenkt wurde. Viele trauerten um den so jäh Dahingegangenen. Hennerkes Eltern aber waren daheimgeblieben. Ihr Gebaren wunderte ihn mehr und mehr. Und aus Stichelreden und absichtlich hingeworfenen Worten der Teilnehmer mußte er schließen, daß sie ihren guten Ruf irgendwie eingebüßt hatten. Zu Hause sprach er sanft mit der Mutter, wußte seine Rede auf das Gehörte zu bringen und erfuhr nun aus ihrem Munde, daß sein Bruder im Verdacht stehe, Kuno hinterrücks erstochen zu haben. Da ging er still in seine Kammer und sank gebrochen auf sein Lager .
Quelle: Erwin Schulz, Das blaue Licht - Sagen und Geschichten aus dem Raum Strasburg - Woldegk, Schibri-Verlag Milow, 2000